In Corona-Zeiten wird besonders sichtbar, wie schlecht die Arbeitsbedingungen in der Pflege sind. Krankenpfleger Alexander Jorde, 23, bekannt durch seinen Appell an Angela Merkel in der Wahlarena 2017, betreut Covid-Patienten und sieht die Lage kritisch. Alexander Jorde ist zu Gast bei Anja Reschke im After Corona Club.
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Von den Balkons wird applaudiert. Über diese Wertschätzung freut sich Alexander Jorde, Pfleger auf einer Intensivstation im Norden. Doch wenn Politiker klatschen, findet er das zynisch: "Derjenige, der in einem Parlament sitzt, der hat die Mittel, der hat die Möglichkeiten, etwas zu verändern, und das tut er nicht. Und sich dann hinzustellen und zu klatschen und zu sagen: Das ist jetzt unsere Wertschätzung für euch. Die kann er behalten, die möchte ich nicht."
Corona-Krise: Fachpersonal notwendig
Schon vor der Corona-Krise war die Lage für die neuerdings "systemrelevanten" Berufsgruppen schlecht: unterbesetzte Stationen, zu wenig Zeit für Patienten und geringe Löhne. In der aktuellen Lage werden viele Probleme noch deutlicher sichtbar. Zwar sieht es so aus, dass wir vergleichsweise gut dran sind. Es gibt viele Intensivbetten und genug Beatmungsgeräte. Doch ein wichtiger Punkt werde vergessen, beklagt Alexander Jorde: "Was viele nicht verstehen, ist, dass es nicht nur die Maschinen braucht und dass man da eben mal jemanden kurz anschließt und dann funktioniert das ganz von alleine und der Patient wird wieder gesund, sondern es ist halt wirklich komplex", so Jorde. "Da braucht es wirklich Fachpersonal, was sich damit auskennt und die Patienten adäquat versorgt."
Schlechter Pflegeschlüssel in Deutschland?
Doch beim Thema Personal sei Deutschland wirklich schlecht aufgestellt. Wir haben "einen der schlechtesten Pflegeschlüssel in ganz Europa und in den Industrienationen weltweit". Die Politik tue zu wenig, um Menschen Anreiz zu geben, in der Branche zu bleiben. Selbst die eingeführten Untergrenzen, wie viele Pfleger für wie viele Patienten zuständig sind, wurden in der Krise aufgehoben.
Pflegepersonal gewerkschaftlich schlecht organisiert
Warum aber rebellieren die Pflegekräfte nicht gerade jetzt, wo sie im Fokus der Öffentlichkeit stehen? Wäre es nicht der ideale Zeitpunkt? Warum sind die Betroffenen so leise? "Das ist, glaube ich, eines der Hauptprobleme in der Pflege, dass wir schlecht organisiert sind", sagt Alexander Jorde. "Wir haben keine Gewerkschaft, die große Teile der Pflege repräsentiert. Es sind nur wenige bei ver.di organisiert. Wir haben keinen Berufsverband, der große Teile repräsentiert. Wir haben nur in wenigen Bundesländern Pflegekammern, die gerade noch in Entstehung sind."
Wenn Pflegekräfte ernst machen würden und nur einen einzigen Tag streikten, hätte das Folgen, die keiner verantworten möchte. "Ich glaube, wenn wir eine Schicht nicht zur Arbeit gehen würden, dann würden mindestens Tausende sterben. Auf einer Intensivstation muss eben jederzeit jemand da sein und diese Menschen betreuen. Da kann man nicht der Arbeit fernbleiben." Mit diesem Argument, man könne die Menschen nicht im Stich lassen, werde diese Berufsgruppe aber auch schon seit Jahren gegängelt. "Dass WIR dabei immer im Stich gelassen werden, das versteht kaum einer."
Pflegekräfte in Kurzarbeit
In der Corona-Krise verschärft sich die Lage auch dadurch, dass Krankenhäuser zum Beispiel durch Leerstände und verschobene Operationen weniger Einnahmen haben. Es gab bereits Kliniken, die ihre Pflegekräfte in Kurzarbeit geschickt haben, trotz angekündigter Ausgleichszahlungen aus dem Rettungsschirm der Bundesregierung.
Alexander Jorde kritisiert die Denkweise dahinter: "Man muss sich das so vorstellen, als ob man jetzt die Feuerwehrleute nach Hause schickt, die auf der Wache sitzen in der Berufsfeuerwehr und sagt ihnen: Es brennt nun mal gerade nicht. Geht mal nach Hause. Aber sobald es brennt, müsst ihr mit fünf Leuten den Waldbrand löschen. Und die Bevölkerung steht am Feldweg und klatscht. So kann es natürlich nicht funktionieren und so wird es auch nicht mehr länger funktionieren."
Das Gesundheitssystem muss sich langfristig ändern. "Wir haben kein Gesundheitssystem, um einen Wirtschaftsfaktor daraus zu machen oder um eine Anlagemöglichkeit für Rentenfonds zu sein, sondern wir haben ein Gesundheitssystem, um Menschen zu heilen, um Menschen zu versorgen, die pflegebedürftig und krank sind. Und das sollte das Ziel sein und nichts anderes."
After Corona Club: Gesprächsformat mit Anja Reschke
Alexander Jorde ist zu Gast im After Corona Club, in dem Anja Reschke mit Fachleuten aus Psychologie, Wirtschaft, Soziologie, Politik, Medizin und weiteren Wissenschaften spricht.
www.ndr.de/aft...
Den After Corona Club gibt es auch als Audio-Podcast
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#pflegenotstand #pflege #corona
29 авг 2024